Können Kinder aus geistigen Behinderungen "herauswachsen"?
Also in dem Sinne, dass Kinder, die Experten als stark entwicklungsverzögert bzw. "zurückgeblieben" (sorry, darf man den Begriff noch verwenden, er klingt ein wenig inkorrekt...) ansehen würden, auf einmal blitzschnell aufholen und plötzlich völlig normal und ohne jegliche Auffälligkeiten sind? (Grund für meine Frage: Mir ist so ein Fall bekannt, wo das so sein könnte)
8 Antworten
Aus der Behinderung selbst nicht. Aber mit guter Förderung können sie ihre Fähigkeiten verbessern. In welchem Maße ist abhängig vom Grad der Behinderung.
Eine Entwicklungsverzögerung ist keine Behinderung, sondern lediglich eine Verzögerung. Hier ist das kognitive Potential entscheidend. Auch hier ist die Förderung wichtig, denn diese Kinder können wirklich so gefördert werden, dass sie die Verzögerung aufholen. Die körperliche und die geistige Entwicklung geht schrittweise vonstatten, bei manchen Kindern kann man richtige Schübe bemerken in ihrer Leistungsfähigkeit. Es gibt verschiedene Faktoren als Ursache für eine solche Verzögerung. Werden diese ausgeräumt, kann das Kind sich auch normal entwickeln und die Rückstände aufholen.
Es gibt natürlich in der Medizin auch Fehldiagnosen, mir selbst ist aber kein solcher Fall bekannt, obwohl ich mit Kindern arbeite. Die Kinder werden über einen längeren Zeitraum beobachtet und getestet. Momentaufnahmen werden heute nicht mehr gemacht, wie das in früheren Zeiten tatsächlich noch der Fall war. Da wurden viele Kinder fälschlicherweise als geistig behindert eingestuft. Sogar eine Legasthenie galt Anfang des vorigen Jahrhunderts als geistige Behinderung. Aber das ist zum Glück lange her. Heutzutage haben wir sehr gute Möglichkeiten, sowohl entwicklungsverzögerte als auch (geistig) behinderte Kinder zu fördern, und die Ergebnisse bereiten immer wieder Freude. Aber man muss sich klarmachen, dass man an Grenzen stößt, die man respektieren muss. Wunder gibt es meiner Meinung nach keine.
Konkret zu deiner Frage: Ich weiß nicht, ob in deinem Bekanntenfall tatsächlich eine professionelle Diagnose vorlag. Wenn es sich um eine Entwicklungsverzögerung handelte: ja. Das kann sein. Viele Kinder verhalten sich sehr schnell sehr anders, wenn die störenden Faktoren ausgeräumt wurden.
Ein anderes Beispiel aus meiner Arbeit ist ein Mädchen, das im häuslichen Umfeld missbraucht wurde, ohne dass dies aufgefallen war. Sie sprach nicht , sie spielte nicht, konnte keinen Blickkontakt halten, an eine Einschulung war nicht zu denken. Man hätte sie als Laie leicht als geistig behindert einstufen können. Erst als die negativen Umstände beseitigt worden waren, ging der Knopf auf. Es braucht immer noch Therapie, aber das Mädchen kann ihr Potential erst jetzt wieder einsetzen. Da ist von einer geistigen Zurückgebliebenheit nichts mehr zu erkennen. Das würde ich aber nicht als Spontanheilung bezeichnen.
Ein Klassenkamerad wurde Sonderschul-Lehrer. Zu ihm kamen etliche normalbegabte Kinder, die aber leider aus "bildungsfernen, zerrütteten, bildungsfeindlichen" Familien stammten. Leider konnte er kaum etwas gegen solche "Eltern" ausrichten...
Großes Kompliment für dein Engagement!
Reine Verzögerungen lassen sich natürlich aufholen.
Weil es anfangs so aussieht, bekommen Kinder die sich mit bestimmten Fähigkeiten einfach mehr Zeit lassen vorschnell eine Fehldiagnose. Damit gelten sie als behindert, bis der nächste Entwicklungsschub einsetzt und sie alles auf einen Schlag nachholen.
Ein bekanntes Beispiel sind spät sprechende Kinder. Sie hören aufmerksam zu, bis sie die Sprache richtig beherrschen, statt unverständlich drauf los zu brabbeln. Weil man das unverständliche Brabbeln aber von einem Kleinkind erwartet, fürchten Eltern und Ärzte sofort eine bleibende Sprachbehinderung - bis das Kind irgendwann von einem Tag zum anderen fließend klares Deutsch redet.
Darum trennt man die Begriffe Entwicklungsverzögerung und geistige Behinderung. Eine Verzögerung geht vorbei, eine Behinderung bleibt.
Nein, aus einer wirklichen geistigen Behinderung kann man nicht "herauswachsen". Du meinst vermutlich starke Entwicklungsverzögerungen. Da gibt es natürlich mit der richtigen Hilfe auch große Erfolge.
ABER - man kann auch bei geistiger Behinderung mit der nötigen Fürsorge und Therapien viel verbessern. Als ich meinen ältesten Pflegesohn mit 3 1/2 Jahren bekam, galt er als schwerst geistig behindert. Er hatte keine Sprache (außer Mama, Papa, Auto), wog 11 kg, konnte wegen nicht entwickelter Muskeln kaum laufen, nicht richtig sehen und hören, hatte kein räumliches Sehen (weil er immer im Bett lag und leere weiße Wände anstarrte), konnte nicht kauen, weil er nur mit Brei etc. "ernährt" wurde, war noch einige Jahre volles Wickelkind.
Heute ist er 19 Jahre alt, kann sich sprachlich gut verständlich ausdrücken, ist recht sportlich, sieht und hört nach einigen kleineren OPs richtig, ist ein begeisterter Esser trotz schlanker Gestalt und hat einige Inselbegabungen entwickelt. Er ist ein talentierter Maler und großer DINO-Kenner.
Natürlich haben wir über Jahre hinweg alles an Therapien mitgenommen, was geboten war. Er wird zwar immer auf dem geistigen Stand eines 8-jährigen bleiben, aber in meiner Familie ist er ein voll integriertes und allseits geliebtes Mitglied.
Super, was Ihr zusammen mit dem Jungen geleistet habt! Ein schönes Beispiel, wie man mit maximaler Förderung auch maximale Lebensqualität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erreichen kann! (Das gilt übrigens nicht nur für Menschen mit geistigen oder auch körperlichen Behinderungen, sondern für uns alle!)
Ich glaube, ich war auch so ein Fall.
Von Geburt an stark sehbehindert und motorisch auffällig, habe auch erst mit drei Jahren angefangen zu sprechen und zu laufen. Meinen Eltern sagten die Ärzte damals, ich würde niemals ein normales Leben führen und könnte auch keine normale Schule besuchen...
Mit 5 Jahren kann ich auf einmal lesen und schreiben, habe wie ein normales Kind gespielt und später in der Schule gute Noten gehabt, sodass ich heute nicht nur Abitur habe, sondern auch ein abgeschlossenes Studium, einen Job, eine eigene Wohnung und sogar einen langen Auslandsaufenthalt in meinem Lebenslauf.
Motorisch merkt man mir von meinen Startschwierigkeiten überhaupt nichts mehr an, ich bewege mich wie ein normaler Mensch, vermutlich auch, weil sich meine Augen gebessert haben (die Behinderung ist zwar immer noch da, aber als Kind hatte ich auch noch Dioptrien... man kann also sagen, damals sah ich nix und heute sehe ich zumindest ein bisschen was)...
Wie die Ärzte damals auf die Idee gekommen sind, ich wäre nicht nur körperlich, sondern auch geistig eingeschränkt, ist mir bis heute ein Rätsel, vielleicht war ich einfach nur ein besonders introvertiertes Kind, was man mir vielleicht als Autismus ausgelegt hat...
Insgesamt würde ich sagen: Vielleicht ist es ja nicht so, dass man aus seinen Behinderungen herauswächst, sondern eher so, dass viele Kinder einfach falsche Diagnosen erhalten.
Von menen Startschwierigkeiten im Leben ahnen übrigens nicht einmal meine Freunde etwas... Sie wissen natürlich, dass ich schlecht sehe, aber ansonsten merkt man gar nix mehr davon, was mir als Kind zu schaffen gemacht hat..
Das ist ein Paradebeispiel für eine Entwicklungsverzögerung, hat aber mit einer echten geistigen Behinderung nichts zu tun.
@washilfts
Darum geht es doch gar nicht! Es geht darum, dass Fehldiagnosen auch möglich sind und das ist das Schlimme daran.
Das hat aber nichts mit der Frage zu tun.
Doch, es hat mit der Frage zu tun. Weil es nunmal oft so ist, daß eine Behinderung diagnostiziert wird, die eigentlich garnicht vorhanden ist.
Und wenn dann diese "Behinderung" plötzlich weg ist kommen Laien gerne auf die schräge Idee, daß man "da irgendwie rausgewachsen" ist...
Es geht also grundsätzlich erstmal um Missverständnisse in Sachen Diagnose...
Man sollte immer den Faktor Mensch mit in Betracht ziehen. Und Ärzte (sowie alle anderen Profis...) sind auch nur Menschen und machen Fehler. Sie geben es nur nicht gerne zu.
Da wird jetzt dauernd irgendetwas hinein interpretiert von wegen Fehldiagnosen. Die Frage war doch völlig klar formuliert und ist deshalb mit einem Nein zu beantworten. Geistige Behinderung ist weder heilbar noch wächst sie sich aus.
Und wenn sich "was auswächst" war es schlicht keine geistige Behinderung! Das war doch auch klar in der Frage.
Ein Fall, in dem es so sein könnte, daß eine "Behinderung" rausgewachsen ist macht noch lange keinen Fall von tatsächlich vorhandener Behinderung daraus! Also nicht einfach davon ausgehen, daß ne Behinderung vorliegt, nur weil man das als Laie halt so nennt...
Für Laien ist vieles 'ne Behinderung, was es aus fachärztlicher Sicht nunmal nicht ist.
Genau (also alles!) lesen sollte man schon auch. Sowohl bei Fragen als auch Antworten... ;)
Wenn man auf jede klar formulierte Frage alle möglichen Eventualitäten durchkauen würde und nicht spezifisch auf die Frage eingeht, tja dann wird wohl alles zur unendlichen Geschichte.
@washlosdigga: Es geht sehr wohl bei dieser Frage um die Unterscheidung zwischen Entwicklungsverzögerung und geistiger Behinderung.
Zu Deiner Information: Es handelt sich in beiden Fällen um das Spezialgebiet der Sozialpädiatrie.
Und da ist man inzwischen in der Forschung so weit fortgeschritten, dass Fehldiagnosen nicht mehr vorkommen - auch dank der vielen neu entwickelten Tests.
Es gibt viele entwicklungsverzögerte Kinder, die aber bereits bei den ersten U's nach der Geburt genauest beobachtet werden, so dass auch immer angegeben wird, um wie viele Monate oder gar Jahre es sich handelt bei der Entwicklungsverzögerung.
WEir haben in ganz Deutschland verteilt verschiedene Kinderzentren, die die Anlaufstelle für diese Problemstellungen sind.
Das erste und gleichzeitig auch führendste Kinderzentrum in Deutschland ist das von München. Gegründet einst von Prof. Helbrügge, der "Vater der Vorsorgeuntersuchungen", wodurch auch gewährleistet ist, dass Einschränkungen - gleich welcher Art - schon sehr früh diagnostiziert werden können, um so Fehlentwicklungen rechtzeitig auffangen zu können.
Folgebehandlungen finden in den Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ).
Einer meiner Pflegesöhne war - trotz danach festgestelltem überdurchschnittlichen IQ - in einer Förderschule. Begründung war auch "familiäre Umstände". Ich habe ihn da rausgeholt und in die Grundschule gegeben.